Abgehauen by Manfred Krug
Autor:Manfred Krug [Krug, Manfred]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2010-11-06T16:00:00+00:00
26. April 1977, Dienstag
Jetzt haben sie meinen Antrag eine Woche. Wir packen keine Koffer mehr, es könnte sein, daß wir sie alle wieder auspacken müssen. Zwölf stehen fertig im Eßzimmer, es sieht aus wie in einer Gepäckaufgabe.
Laub und Kiefernnadeln verstopfen die Abflüsse der Dachrinne, es läßt mich kalt, daß der Regen sich seinen Weg an der Wand runter sucht, es pladdert vor den Fenstern. Der alljährliche Schaden an den Gasboilern, ich habe zwei eingebaut, damit einer immer funktioniert, bleibt unbehoben, wir erwärmen das Wasser auf dem Herd, die Hähne tropfen, der Zaun rostet, von der grünen Laube und von den Fenstern blättert die Farbe.
Das Haus ist ohnehin zu groß. Wenn die Kinder uns einst verlassen hätten, würden Ottilie und ich einander in den Räumen suchen müssen. Mir hat jetzt schon das soziale Gewissen geschlagen. Ein Blick durch die Kastanien auf die benachbarte Mietskaserne, einen alten, schwammigen Kasten, genügt, um das Vergnügen am Haus zu dämpfen. Kein Spielplatz in der Umgebung war so von Kindern bevölkert wie unser Garten, warum? Warum war keine Kneipe so gut besucht wie unser Haus? Weil wir immer ein schlechtes Gewissen hatten, wir hatten zuviel Haus, zuviel Garten, zuviel Geld. Hätte ich es doch versoffen. Ein paar Stubenlagen im Wartesaal des Ostbahnhofs, hier und da mit einem 50-Mark-Schein eine Zigarette angezündet, wie Norbert Christian, Gott hab ihn selig, so im Dauertran wie der wunderbare Rolf Ludwig, oder so kaputtgesoffen wie der große Raimund Scheicher und viele andere. Die hatten eine Dreizimmerwohnung, und gut war’s. Ich hab immer gebaut, ausgebessert, restauriert, wie ein deutscher Kleingärtner, der nichts umkommen läßt. Kein Stück Draht flog bei mir in den Müll, ich brauchte jede Schraube, denn ich war mein eigener Hausmeister und Gärtner und Klempner und Maurer. Vielleicht ist es gut, wenn alles dort stehen und liegen bleibt, dann kann ich von vorn anfangen und mir überlegen, wie weit ich es diesmal treiben will. So weit jedenfalls nie wieder. Aber ist all mein Sammeln, das Antiquitätensuchen, meine Werkstatt, die Wochenenden mit den alten Autos, von denen noch kein einziges gefahren ist, sind die Tausende von Stunden, ist dieser Aktionismus über meine Berufsarbeit hinaus wirklich nur die Lust am Raffen gewesen? Nie und nimmer. Es waren Vorbereitungen für die große Robinsonade: die Tore zu, die DDR draußen, ich und meine ausgesuchten Freunde drinnen. Ich wollte einmal im Leben einen anderen Teil der Welt sehen, einen anderen Kontinent, dafür hätte ich Zeit und Geld lieber ausgegeben. Auslandskonzerte selbst organisieren und anbieten, unsere Schallplatten noch einmal in anderen Sprachen besingen, in russisch, ungarisch, warum nicht? Die dortigen Sänger traten ja auch bei uns auf und sangen deutsch. Es ist mir nie gelungen, für dieses simple Projekt einen der größeren Funktionärsärsche aus dem Sessel zu lüpfen. Die Leute kleben auf ihren Stühlen, faul, frech, machtbesoffen, kriegen ihr Geld und bilden mit all den anderen Faulenzern und Schwätzern jene filzige Schicht, die sich zynisch Arbeiterklasse nennt, zusammengehalten durch die Solidarität der Mittelmäßigkeit, durchsetzt von Stasi und Parteifunktionären. Und die wirkliche Arbeiterklasse bezahlt den ganzen Schmarotz, die Arbeiter, die wirklich acht Stunden arbeiten.
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